„1914 – Mitten in Europa“ – Panorama einer Epoche zwischen Aufbruch und Krieg

Die Ausstellung "1914 - Mitten in Europa" in der Kokerei des UNESCO-Weltkulturerbes Zeche Zollverein in Essen widmet sich dem Ersten Weltkrieg und den Entwicklungen, die dazu führten. (Foto: Karsten-Thilo Raab)
Die Ausstellung „1914 – Mitten in Europa“ in der Kokerei des UNESCO-Weltkulturerbes Zeche Zollverein in Essen widmet sich dem Ersten Weltkrieg und den Entwicklungen, die dazu führten. (Foto: Karsten-Thilo Raab)

Zum 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs zeigen das LVR-Industriemuseum und das Ruhr Museum bis zum 26. Oktober 2014 in der Mischanlage der Kokerei Zollverein in Essen die Ausstellung „1914 – Mitten in Europa“. Das Ereignis des Ersten Weltkriegs prägte nicht nur tiefgreifend eine ganze Epoche und die Lebenserfahrung der Menschen vor 100 Jahren, sondern die Geschichte Deutschlands, Europas und insbesondere der Rhein-Ruhr-Region über das 20. Jahrhundert hinweg bis heute.

Die Ausstellung ist das Flaggschiff des in Deutschland einzigartigen Verbundprojektes „1914 – Mitten in Europa. Das Rheinland und der Erste Weltkrieg“ des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR). Mit 2.500 Quadratmetern Ausstellungsfläche ist sie die größte des LVR-Veranstaltungsverbundes im Erinnerungsjahr an den Ersten Weltkrieg in Deutschland.

Die Mischanlage der Kokerei der Zeche Zollverein bildet den beeindruckenden Rahmen für die nicht minder beeindruckende Ausstellung. (Foto: Karsten-Thilo Raab)
Die Mischanlage der Kokerei der Zeche Zollverein bildet den beeindruckenden Rahmen für die nicht minder beeindruckende Ausstellung. (Foto: Karsten-Thilo Raab)

Vor 100 Jahren begann in Europa mit dem Ersten Weltkrieg der erste industrialisierte Krieg der Weltgeschichte. Die Ausstellung „1914 – Mitten in Europa“ geht den Voraussetzungen und den Folgen dieser „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ im Rheinland und im Ruhrgebiet nach und spannt dafür einen zeitlichen Bogen vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Ende der Weimarer Republik. Die Besucher erleben ein Zeitalter des Aufbruchs, in dem der Krieg den dramaturgischen Angelpunkt bildet. Die Ausstellung zeichnet ein Panorama der Epoche und richtet den Fokus dabei nicht nur auf den Krieg, sondern auch auf die dramatischen gesellschaftlichen Umwälzungen, die den Aufbruch in die Moderne markieren.

Plakate wie dieses lösen aus heutiger Sicht Verwunderung, Unverständnis und Kopfschütteln aus. (Foto: Karsten-Thilo Raab)
Plakate wie dieses lösen aus heutiger Sicht Verwunderung, Unverständnis und Kopfschütteln aus. (Foto: Karsten-Thilo Raab)

Die drei Etagen der Mischanlage der Kokerei Zollverein bilden die chronologische Struktur der Ausstellung: Kaiserreich, Krieg und Weimarer Republik. Die Besucher gelangen in die Ausstellung, indem sie vom südlich vorgelagerten Wiegeturm aus eine 150 Meter lange Fahrt mit einer Standseilbahn antreten.

Oben angekommen werden sie von den Visionen einer besseren Zukunft empfangen, die den noch nahezu ungebrochenen Optimismus der Menschen am Beginn des 20. Jahrhunderts prägten. Dann beginnt der erste große Bereich des Ausstellungsrundgangs mit dem wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Aufbruch im Industriegebiet an Rhein und Ruhr am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Das 19. Jahrhundert hatte ungeahnte Fortschritte in Wissenschaft und Technik gebracht und die Industrialisierung war in einem enormen Tempo vorangeschritten.

Der rasante Wandel der Lebens- und Arbeitswelt ließ die Zukunft offener denn je erscheinen – ganz besonders in den Industriemetropolen, wo der Wandel am spürbarsten war. Auf dieser sogenannten Verteilerebene zu sehen sind zum Beispiel ein Drehgestell der Wuppertaler Schwebebahn, die 1901 in Betrieb ging, ein Elektroauto, der „Runabout“ von 1903, aber auch Werbeplakate und Produktverpackungen, die neue Konsummöglichkeiten offenbaren. Anhand von Kleidung wie eng geschnürten Seidenroben, aber auch dem Outfit einer Arbeiterin und einer Prostituierten wird ein Gesellschaftspanorama der Klassengesellschaft des Kaiserreichs ge-zeichnet.

Gasmasken als Mahnmal für die Greultaten des Ersten Weltkriegs. (Foto: Karsten-Thilo Raab)
Gasmasken als Mahnmal für die Greultaten des Ersten Weltkriegs. (Foto: Karsten-Thilo Raab)

In diese Welt bricht 1914 der Krieg ein, dem die nächste, die sogenannte Bunkerebene gewidmet ist. In ihm spielte die Rhein-Ruhr-Region als „Waffenschmiede des Deutschen Reiches“ aber auch als Region großer Opfer und Entbehrungen eine besondere Rolle. Eine Feldhaubitze, das Modell eines Kriegsschiffes, ein riesiges Gemälde eines Giftgas-Versuchs, Soldatenfotos, Feldpostkarten und Gips- und Wachsmoulagen schwerer Kriegsverletzungen zeigen das gewaltsame Gesicht des industrialisierten Krieges. Thematisiert wird aber auch das Leben an der Heimatfront, wo nicht nur alle wehrfähigen Männer, sondern auch Frauen und Jugendliche für den „Totalen Krieg“ mobilisiert wurden. Bis zu 3,50 Meter große Nagelfiguren sind in der Ausstellung Beispiel für die Propagandaaktionen, die die ungeheuerlichen Verluste, Hunger und Entbehrungen rechtfertigen sollten.

Schauriger Blick auf die Prothesen für schwer verletzte Frontkämpfer. (Foto: Karsten-Thilo Raab)
Schauriger Blick auf die Prothesen für schwer verletzte Frontkämpfer. (Foto: Karsten-Thilo Raab)

Die Folgen des Krieges stehen im Mittelpunkt der dritten Ausstellungsebene, der sogenannten Trichterebene. Hier wird dessen epochale Wirkung deutlich. Dies gilt insbesondere für die Rhein-Ruhr-Region, wo der Krieg 1918 nicht endete – Gewalterfahrungen, Hunger und Armut prägten hier den Alltag noch eine lange Zeit. Mit den Generalstreiks der Bergarbeiter 1919 und dem Ruhrkampf 1920 wurde die Region zum Zentrum der revolutionären Bewegung. Die „Rote Ruhrarmee“ wurde von Regierungstruppen blutig niedergeschlagen.

Auch mit Plakaten werden die schweren und entbehrungsreichen Kriegsjahre visualisiert. (Foto: Karsten-Thilo Raab)
Auch mit Plakaten werden die schweren und entbehrungsreichen Kriegsjahre visualisiert. (Foto: Karsten-Thilo Raab)

Ein Nachspiel des Kriegs bildeten auch die separatistischen Bestrebungen im Rheinland und die belgisch-französische Besetzung des Ruhrgebiets von 1923. Aber auch der Aufbruch in Technik, Wissenschaft, Gesellschaft, Architektur, Kino, Sport und Politik sind thematische Facetten dieser nun entzauberten Moderne der 1920er-Jahre, die Vieles aus der Vorkriegszeit wieder aufnimmt. Die Gesellschaft hat sich jedoch verändert: Mit Perlen und Pailletten bestickte Charlestonkleider im Art Déco-Stil, ein Autofahrermantel für die Frau, Kinderkleidung sowie Gehrock und „Stresemann“ für den Herrn lassen Besucherinnen und Besucher in den veränderten Lebensstil während der Weimarer Republik eintauchen.

Auch der wirtschaftliche Aufschwung vor dem Ersten Weltkrieg und die Utopie im Land werden thematisiert. (Foto: Karsten-Thilo Raab)
Auch der wirtschaftliche Aufschwung vor dem Ersten Weltkrieg und die Utopie im Land werden thematisiert. (Foto: Karsten-Thilo Raab)

Der Abschluss der Ausstellung verweist auf die nachfolgende größte Katastrophe des Jahrhunderts: den Zweiten Weltkrieg als Schlussakt des letztendlich „Dreißigjährigen Krieges“, der 1914 begann.

„Der Rhein-Ruhr-Raum ist viel direkter in den Ersten Weltkrieg verstrickt als wir uns vorstellen“, erklärt Prof. Heinrich Theodor Grütter, Direktor des Ruhr Museums. „Hier wurden dessen Waffen zu großen Teilen produziert und seine Gewalt kehrte mit Hunger, Revolution und Besatzung in die Region zurück.“

Abgerundet wird die Ausstellung durch einen Ausblick auf die schicksalhaften Entwicklungen nach dem Ersten Weltkrieg. (Foto: Karsten-Thilo Raab)
Abgerundet wird die Ausstellung durch einen Ausblick auf die schicksalhaften Entwicklungen nach dem Ersten Weltkrieg. (Foto: Karsten-Thilo Raab)

Dr. Walter Hauser, Direktor des LVR-Industriemuseums, betont: „Die Region wurde von den Prozessen der Modernisierung und der rasanten Urbanisierung – mit sozialer Entwurzelung, dem Aufbau von großräumiger Infrastruktur – umgewälzt wie keine andere. Die Ausstellung gibt Antworten auf die Frage nach Identität und Herkunft der Rhein-Ruhr-Metropole aus dem Geist der Moderne.“

Ausstellungsort ist die Mischanlage der ehemaligen Kokerei Zollverein, das spektakulärste Gebäude auf dem Welterbe Zollverein. Sie entstand von 1957 bis 1961. Die gewaltigen Bunkeranlagen des ehemaligen Kohlespeichers, die der Ausstellungsparcours auf drei Ebenen erschließt, versinnbildlichen schon durch ihre Materialität und Monumentalität die visionären technischen Potentiale, aber auch die Gewalttätigkeit der industriellen Moderne.

„1914 – Mitten in Europa“ ist eine gemeinsame Ausstellung des LVR-Industriemuseums und des Ruhr Museums. Präsentiert werden mehr als 2.500 Exponate, viele aus den Sammlungen der beiden Museen, aber auch von über 200 teils überregionalen und internationalen Leihgebern.

Adresse/Informationen: UNESCO-Welterbe Zollverein, Areal C (Kokerei), Mischanlage (C70), Arendahls Wiese, 45141 Essen, www.1914-ausstellung.de

Öffnungszeiten: Bis 26. Oktober täglich von 120 bis 18 Uhr

Eintritt: 10 Euro, ermäßigt 7 Euro, Kinder und Jugendliche bis 14 Jahre frei

Buchtipps: Ulrike Katrin Peters, Karsten-Thilo Raab: 99 x Ruhrgebiet wie Sie es noch nicht kennen, Bruckmann Verlag, ISBN 978-3-7654-6538-3. Erhältlich ist der Titel für 12,99 Euro im Buchhandel oder direkt beim Bruckmann Verlag.

Ulrike Katrin Peters, Karsten-Thilo Raab: Ruhrgebiet für eine Hand voll Euro, Westflügel Verlag, ISBN 978-3-939408-01-7. Erhältlich ist das Buch zum Preis von 13,90 Euro im Buchhandel oder direkt beim Verlag. 


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